Mit etwas Glück kann man ein Flugticket nach Mailand oder Rom schon für dreißig Euro bekommen. Einchecken, abheben, und schon zwei Stunden später ist man in Bella Italia. Als sich der neunzehnjährige Paul Brych aus Südwestfalen hingegen auf den Weg dorthin machte, da dauerte die Reise dann doch noch etwas länger.
Er hatte nämlich keinen weichen Polstersessel im Jet gechartert. Aber er hatte ein Moped. Endlich! Einen nachtschwarzen 1,25 PS-Feuerstuhl, Marke Vaterland aus Neuenrade, hart erarbeitet, bar bezahlt und auf der Langstrecke garantiert schneller als jeder Drahtesel.
Das war 1957, und das erforderliche Fernweh hatte sich dabei portionsweise eingestellt. Vater Paul Brych senior, Jahrgang 1886, hatte sich 1951 mit einem Damenfahrrad ohne Gangschaltung von Attendorn in Westfalen nach München auf den Weg gemacht. Da wollte er eine Tante wieder aufspüren, die in den Wirren der Kriegszeit verlorengegangen war, nachdem sich die Familie aus Breslau auf den rettenden Weg gen Westen gemacht hatte.
Paul Junior machte es dem Vater schließlich in den Ferien nach, und zwar so, wie eine ganze junge Nachkriegsgeneration auf Reisen ging: Mit dem Drahtesel. 1954 ging es das Rheintal hinunter bis nach Mainz. Paul Brych erinnerte sich gern: „In Rüdesheim, da trafen wir ein paar Lehrjungen aus dem Bergbau. Die verdienten auch damals schon richtiges Geld. Und deshalb hatten auch alle ein Moped!“
Das ging ihm nicht mehr aus dem Kopf und klar, auch das Radeln machte keinen richtigen Spaß mehr. Also wurden die Ärmel ordentlich aufgekrempelt.
Paul hackte Brennholz und sammelte nicht nur Altmetall, sondern auch Pilze und Waldbeeren. „Sieben Zentner. In einem Sommer.“ 1956 war es schließlich soweit. „Heute kaum noch zu glauben, aber mein nagelneues Vaterland-Moped wurde per Bahnfracht fast bis nach Hause angeliefert!“
Die erste längere Fahrt geht gleich bis an den Bodensee. Eine echte Fernreise. Die Schwarzwald-Höhenstraße klingelte damals dem Westfalen in den Ohren wie heute vielleicht noch die Route 66 oder die Carrera Panamericana.
Und dann, hinter den Alpen: Italien! Verheißungsvolle Namen… Limone, Lido, Gardasee… Erste Urlauber hatten von dort ihre nachkolorierte Postkarten von Zitronenbäumen in Landschaften von explodierender Farbfülle geschickt, das Meer so blau wie ein Türkis. Für Paul Brych ganz klar: Da musste er hin. Und es war auch kein Problem mehr.
Er hatte ja ein Moped.
Am 30. Juni 1957 machte er sich morgens um vier mit einem Kollegen auf den Weg. „Der hatte eine NSU Quickly, da stimmte aber was nicht, da mussten wir alle 200, 300 Kilometer den Auspuff abmontieren und ausbrennen, sonst zog die nicht mehr.“ Na ja, wat mutt, dat mutt. Dennoch war das Gespann nach nur 17 Stunden bereits in München angekommen. Schnell frischgemacht in der Bahnhofsmission, und dann nichts wie ins Hofbräuhaus. Drei Liter passten in den Tank, dann passten die gefälligst auch in den Fahrer…
Der nächste Reisetag endete hinter Innsbruck, kurz vor dem Brenner. Nun, und dann ging es bergauf. Und zwar richtig, und das gleich zweimal. „Mittrampeln war da angesagt, das Vaterland-Moped in der günstigen Standardausführung hatte schließlich nur einen einzigen Direktgang… Der Jaufenpass war noch eine grobe Schotterpiste, die bei der Auffahrt zwar beschwerlich, dafür bei der Abfahrt entsprechend halsbrecherisch wurde… Paul fuhr bergab natürlich zum Spritsparen mit abgestelltem Motor, man hatte ja keinen Dukatenkacker in der Satteltasche.
Er erinnerte sich sehr gern an die Fahrt, die genau vor 60 Jahren begann. An die ersten Zypressen seines Lebens, die er zu sehen bekam, oder das ungläubige Kopfschütteln der italienischen Tankwarte, aber auch an das atemberaubende Panorama am Gardasee in einem der heißesten Sommer des 20. Jahrhunderts.
Und das alles mit dem Vaterland-Moped. Mit 1,25 PS, Direktgang und ab dafür.
Abschließend noch die Erinnerung an eine zum Teil so verregnete Rückfahrt, dass die besorgte Wirtin einer Herberge im Inntal ihn schon ob seiner merkwürdigen Krankheit zum Arzt schicken wollte. Als sich jedoch herausstellte, dass die krebsroten Hände nur Folge der im Dauerregen abfärbenden Wollhandschuhe waren, da war die Welt wieder in Ordnung. „Aufgetischt hat die gute Dame, mit Schinken und Käse und Bier und was weiß ich, und das alles inklusive Übernachtung für 3 Mark und 20 Pfennige.“
Paul Brych starb 2009. Dem Heinkel-Stammtisch Südwestfalen bleibt er unvergessen.
Auch ich hatte in den sechziger Jahren als Schüler ein Vaterland-Moped, das ich für 60 DM gekauft hatte. Das Geld dafür hatte ich in den Sommerferien bei einem Friedhofsgärtner verdient, 2 DM die Stunde und eine Flasche Bier zu Mittag.
Bei einer regnerischen Heimfahrt mußte ich einmal in einer Kurve wegsehen, um nicht von einem entgegenkommenden Auto geblendet zu werden. Als ich wieder nach vorne sah, war ich bereits so weit, daß ich nicht mehr angemessen bremsen oder einlenken konnte. Also Gas weg und versuchen, in der Grasnarbe ohne Bremse wieder langsam in Richtung Straße steuern. Aber die Grasnarbe war etwa einen Meter tief und hieß Graben und war zugedeckt vom nassen Gras. Beim Aufprall Abflug über den Lenker und rein in den Matsch. Beim Aufstehen war das Moped weg. Ich fand es drei Meter über mir kopfüber an einen Weidezaun gelehnt. Nach Hause mußte ich zwei Kilometer schieben, danach schrauben und biegen. Ich selbst bin glimpflich dabei weggekommen und habe mir nur einen Schuh an der Klingel aufgeschnitten mit einem kleinen Riß auf dem Fußrücken. Danke heute noch an alle Schutzengel.
Mein Bruder hat sein Motorrad auch mit der Bahn anliefern lassen. Das Moped kam mit der Bahnfracht aus China. Ich habe damals gern dabei zugesehen wie die Züge in den Bahnhof einfahren.